Interview mit
Josef Kraus aus dem "Stern" vom 20. August 2009
"Kein Abitur für
alle!"
Den Anspruch mancher Eltern hält er
für
"durchgeknallt".
Von
Catrin Boldebuck, Nikola Sellmair
Herr
Kraus, warum jammern so viele Lehrer?
Weil es ein
aufreibender Beruf ist: Sie sind nebenher noch Ersatzmutter und
Sozialpädagoge,
das kostet Kraft.
Bei
uns kann jeder Lehrer werden. Was halten Sie von Eingangstests vor dem
Studium?
Es ist
schwer, bei einem 20-Jährigen festzustellen: Der wird ein guter Lehrer
oder
eben nicht. Überhaupt müssen wir froh sein, wenn genügend Leute Lehrer
werden.
Schon jetzt fehlen in vielen Fächern Lehrkräfte.
Sie
müssen jeden nehmen?
Mein
Gymnasium hat rund 1000 Schüler, macht etwa 1400 Unterrichtsstunden pro
Woche.
Weil wir nicht genügend hauptamtliche Lehrer haben, fehlen 250 Stunden.
Einen
Teil decken Referendare ab. Gut 70 Stunden muss ich mir auf dem freien
Markt
zu-sammensuchen. Ich habe Diplominformatiker, Ingenieure und einen
Arzt, der
Physik unterrichtet. Auf Sommerfesten fordere ich qualifizierte Eltern
auf,
sich zu bewerben.
Klingt
nach Mangelverwaltung. Ihr neues Buch heißt: "Ist die Bildung noch zu
retten?" Und - ist sie es?
Es wäre schon
viel gewonnen, wenn man in Deutschland nicht dauernd Bewährtes über
Bord
schmeißen würde. Die Bildungs-debatte krankt an Reformitis. Zum
Beispiel die
Pisa-Hysterie. Ich finde internationale Vergleichsstudien grundsätzlich
gut.
Viel zu lange hatten die Deutschen Angst vor der Wahrheit. aber seit
Pisa
schauen alle nur nach Skandinavien. Dort gibt es Gesamt-schulen, und
jetzt
glauben wir, dass wir die auch unbedingt brauchen.
Politiker,
Eltern und Lehrer wollen weg vom dreigliedrigen Schulsystem, hin zu
längerem
gemeinsamen Lernen. Was stört Sie daran?
Es
funktioniert nicht. Wenn das Leistungsgefälle in einer Klasse zu groß
ist, kann
ein Lehrer Wissen nicht mehr ordentlich ver-mitteln. Die Qualität
leidet, wenn
in einer Klasse der Hauptschüler mit schwachen Deutschkenntnissen neben
dem
Spitzen-gymnasiasten sitzt.
Aber
gute Schulen machen es doch vor: weg von Einheitsprogramm und
Frontalunterricht, hin zu individuellen Lernplänen.
Den Spagat
zwischen schwachen und starken Schülern kriegt man damit auch nicht
hin. Diese
sogenannte innere Differen-zierung, auf der viele Visionen in
Deutschland
basieren, ist doch ein Wolkenkuckucksheim. Schauen Sie sich die
Gesamt-schulen
in Deutschland an: Die meisten haben ein Niveau weit unter der
Realschule!
Es
gibt hervorragende Gesamtschulen. Das zeigt auch der Deutsche
Schulpreis. Ein
bayerisches Gymnasium ist bisher nicht mal nominiert worden.
Das haben wir
auch nicht nötig. Meine Schule ist in allen Leistungstests unter den
fünf
Prozent besten bayerischen Gymnasien.
Viele
Eltern wollen die frühe Auslese nach der vierten Klasse nicht.
So manche
Eltern wollen die Wohlfühlschule mit Abitur-Vollkaskogarantie. Sie
wollen, dass
ihr Kind um jeden Preis Abitur macht, Sie lassen sich gern täuschen. Ob
es am
Ende wirklich studierfähig ist, das ist ihnen leider egal. Ich
bezeichne das
als "Prinzen-Syndrom": Mein Kind ist das tollste, beste,
gescheiteste. Für dieses Kind wird gekämpft. Wenn es in einem Fach mal
eine
Drei schreibt., wird ein Anwalt eingeschaltet. Dann geben wir das
Abiturzeugnis
halt mit der Geburtsurkunde aus, dann sind alle zu-frieden! Ernsthaft:
Viele
Kinder stehen unter Druck, weil ihre Eltern vor lauter Ehrgeiz abheben.
Das
erklärte Ziel der Bildungspolitik ist: Mehr Schüler sollen Abitur
machen und
studieren. Auch weil uns Fachkräfte fehlen.
Dadurch sinkt
das Niveau. Schon jetzt werden Lehrpläne heruntergefahren, das nennt
sich dann
Entrümpelung. Wie ich dieses Wort hasse! Schauen Sie sich die Lehrpläne
in
manchen Bundesländern an: In den Fremdsprachen etwa haben wir beim
Wort-schatz
Abstriche von bis zu 30 Prozent. Würde man Abituraufgaben von vor 20
Jahren
heute stellen, gäbe es ein Notengemetzel, das bestätigen Kollegen quer
durch
die Bundesländer. Es würde Fünfer und Sechser hageln.
Sie
behaupten: "Auch in der Schule soll es sein wie beim Hundertmeterlauf.
Am
Start stehen alle auf einer Linie, am Ziel mag es Langsamere oder
Schnellere
geben." Aber die Startchancen sind nicht gleich - ob ich Erfolg in der
Schule habe, hängt vom Elternhaus ab.
Alle Eltern
können ihre Kinder fördern, indem sie zum Beispiel mit ihnen lesen.
Aber
es gibt viele, die können es selbst nicht.
Ja, und dann?
Ich kann doch die Kinder aus dem sogenannten Prekariat
nicht zum
Schulabschluss tragen. Unsere Gesellschaft wird nicht gerechter, wenn
alle ins
Gymnasium gelenkt werden.
Es
geht doch gar nicht darum, dass jetzt alle Abitur machen sollen. Acht
Prozent
aller Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss, 20 Prozent
können nicht
richtig lesen und schreiben.
Das wird aber
noch dramatischer werden, wenn man die Hauptschule abschafft, wie es ja
in
Berlin und Hamburg vorgesehen ist. Hauptschulen haben die kleinsten
Klassen
unter allen weiterführenden Schulformen. Dort können Sie viel
individueller
fördern als in einem integrativen System. Ich wehre mich dagegen, die
Hauptschule
schlechtzureden.
Sie
finden 20 Prozent Analphabeten also okay? Sollten Schulen nicht jeden
Schüler
fördern und keinen frühzeitig aufgeben?
Schulen
müssen Angebote machen, aber Schüler müssen diese Angebote annehmen.
Auch
arbeitslose oder türkische Eltern können dafür sorgen, dass ihr Kind
lernt. Zur
Not müssen die Ämter Druck ausüben. Der Bezirksbürgermeister von
Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, schlug vor, den Eltern von
Schulschwänzern
das Kindergeld zu streichen.
Studien
zeigen: Arbeitslose Eltern verbringen am wenigsten Zeit mit ihren
Kindern. Es
gibt Kinder, die werden morgens mit einer Chipstüte auf die Straße
gestellt.
Mit denen übt niemand Vokabeln. Soll man Kinder für ihre Eltern
bestrafen?
Wenn der
Staat den Eltern alles abnimmt, werden die noch passiver. Schule kann
nicht
alles reparieren. Wenn Jugendliche gewalttätig werden oder rassistisch
oder
sich ins Koma saufen, höre ich von Politikern immer nur: Die Schule
muss dazu
ein Fach machen. Bei Medienerziehung sehen wir: Je mehr Schule so tut,
als
könnte sie die Mediengewohnheiten von Kindern positiv beeinflussen,
desto mehr
dürfen die Kinder zu Hause rumsurfen und Hackfleischvideos anschauen.
Der Staat
soll seine Fangarme nicht ins Private strecken. Ich möchte keine
Vorschulpflicht, keine Kindergartenpflicht. Ich will Erziehung nicht in
einer
Weise verstaatlichen, dass es ans Totalitäre grenzt.
Nach
Ihrer Logik wären dann ja auch Ganztagsschulen auch totalitär.
Sie sind nur
die zweitbeste Lösung. Die beste Lösung ist ein bildungsorientiertes
Elternhaus.
Wir werden auch nicht aus 42.000 Schulen in Deutschland sofort
Ganztagsschulen
machen können, das kann keiner finanzieren. Deshalb würde ich erst mal
Ganz-tagshauptschulen in sozialen Brennpunkten aufbauen.
Und
was ist mit berufstätigen Eltern? Die brauchen auch mehr
Ganztagsschulen.
Sollen weiter hochqualifizierte Frauen zu Hause bleiben, als
Hilfslehrer der
Nation?
Die
Ganztagsschule ist doch kein Frauenförderprogramm. Ich möchte
nicht den
rundum betreuten jungen Menschen haben. Es muss noch ein Leben
außerhalb der
Schule geben.
Auch
die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre, das G8, lässt
sich
nur mit Nachmittagsunterricht durchführen.
Dagegen bin
ich ja auch strikt. Ich muss das als Schulleiter durchziehen, aber ich
sehe,
was auf der Strecke bleibt. Wir sollen jungen Menschen mehr
Naturwissenschaften
beibringen, mehr Fremdsprachen, sie politisch, historisch, musisch
umfassend
bilden. Und wir sollen mehr als bisher zum Abitur führen - und das in
immer
kürzerer Zeit. Das haut einfach nicht hin.
Leiden
Schüler unter dem Zeitdruck?
Etwa ein
Drittel leidet - das sind die, die ein langsameres Lerntempo haben. Bei
den
Hausaufgaben sind wir in einem pädago-gischen Dilemma. Wir haben viele
Fahrschüler, die um 17 Uhr zu Hause sind. Sollen wir denen noch
anderthalb
Stunden Haus-aufgaben aufgeben? Doch gerade die Schwächsten brauchen
die Übung.
Und Hausaufgaben sind wichtig für den Lehrer - er sieht, wo die Klasse
steht.
Viele
Eltern helfen ihren Kindern bei den Hausaufgaben.
Ich predige
den Eltern immer: Lassen Sie Ihre Kinder die Hausaufgaben
eigenverantwortlich
machen! Die Verrücktheit, die ich erlebt habe, dass eine Mama, die
selber nie
Latein hatte, an der Volkshochschule Latein lernt, um dem Kind zu
helfen, das
halte ich für durchgeknallt. Die wird ihr Kind auch nie zum Abitur
bringen.
Kinder sollen nicht mit schönen Hausaufgaben in die Schule kommen,
sondern mit
ehrlichen. Damit der Lehrer sieht: Mensch, in Klasse 5b machen die
immer den
gleichen Fehler, da muss ich noch eine Erklärungsschleife einbauen.
Jeder
zweite Gymnasiast in Klasse 5 bis 10 bekommt Nachhilfe. Das ist ein
Armutszeugnis für die Schulen.
Nein. Ich
habe ganz klare Kriterien, wann Nachhilfe etwas bringt: Wenn ein
Schüler in ein
oder zwei Fächern Lücken hat und die so überschaubar sind, dass man sie
innerhalb von drei, vier Monaten schließen kann. Nachhilfe für ein
ganzes
Schuljahr oder die ganze Schullaufbahn - da läuft was verkehrt. Da muss
ich
überlegen, ob ich nicht mit einer anderen Schullaufbahn dem Kind
ge-rechter
werde.
Sie
plädieren für Leistung, Autorität und Disziplin. Diese Werte stehen bei
Eltern
wieder hoch im Kurs, das zeigt der Erfolg der Bücher von Ex-Schulleiter
Bernhard Bueb und Kinderpsychologe Michael Winterhoff. Freut Sie das?
Ob Bücher
wirklich etwas ändern? Die Leistungsfeindlichkeit der 68er-Pädagogik
ist immer
noch da.
Die
68er-Pädagogik hat auch verkrustete Strukturen aufgebrochen.
Das Gute ist,
dass der Umgang zwischen Lehrern und Schülern unverkrampfter geworden
ist,
partnerschaftlicher. In der Grund-schule, die ich Ende der 50er Jahre
in
München besuchte, gab es noch die Tatzen - ein fingerdickes
Bambusstäbchen auf
die ausgestreckten Finger, wenn man zu viel geschwätzt hat. Da will
doch keiner
hin zurück.
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